Verlängerung für den Stadiongarten Zürich

Unsere Einladung in die Schweiz haben wir dazu genutzt, um zusammen mit Franzi (Gärtnerin in Berlin) und Micha (Fahrradkurier und Pizzakoch im Prinzessinnengarten) den Stadiongarten zu besuchen. Neben den Tribünenresten des ehemaligen Stadions der Grashoppers Zürich gärtnern hier über 100 Menschen, die für die Nutzung der Beete nichts zahlen müssen.

stadiongarten

Zürich West: ein Gartenidyll zwischen Baukränen

Trotz der schon kühleren Temperaturen war der Garten belebt, als wir am Samstag Vormittag mit den Rädern vorbeischauten. Das Backkollektiv brotoloco  – ein Ableger des Gemüsekollektivs ortoloco – war gerade dabei, Rundlinge in den beeindruckenden Lehmofen zu schieben. Begrüßt wurden wir von Wanda und Lolo. Lolo ist inzwischen – finanziert von der Stadt Zürich – hauptamtlicher „Brachenpfleger“. Zusammen haben uns die beiden den Garten gezeigt, die Philosophie dahinter erläutert und die Geschichte seines Entstehens und auch seines unverhofften Weiterlebens erzählt.

Stadionbrache als gemeinschaftlich genutzter Freiraum

Angefangen hatte es mit der Idee einer Nachbarin, die ungenutzte Stadionbrache temporär als Freiraum zu nutzen. Mit der Liegenschaftsverwaltung der Stadt hat der eigens geschaffene Verein Stadionbrache einen Vertrag mit sechsmonatiger Kündigungsfrist abgeschlossen. Es wurde kein Mietzins verlangert. Im Gegenzug verpflichteten sich die im Verein selbstorganisierten NutzerInnen auf kommerzielle Aktivitäten zu verzichten und die Brache 24 Stunden am Tag für alle offen zu halten. Da die Stadt sich nicht selbst um die Pflege des Geländes kümmert, sprechen die BrachenpflegerInnen von einem „geöffneten Grund“ oder einem „halböffentlichen“ statt von einem „öffentlichen Raum“.

Die ersten, die kamen, um den verlassenen Ort mit Leben zu füllen waren nicht die GärtnerInnen, sondern die Skater. Inzwischen befinden sich zwei professionell gegossene Skatebowls auf der Fläche. Es soll sogar einen skatenden Gärtner geben. Solche ungewöhnlichen Nutzungsmischungen zeigen sich auch in der „Architektur“ der Stadionbrache, die Hochbeete, Skate-Anlagen, einen Fußballplatz, einen Kletterwürfel, ein Bauspielplatz für Kinder, und ein Gemeinschaftshaus verbindet, in dem unter anderem wöchentliche Volksküche stattfinden. Jedes Jahr kommen etwa 20.000 Menschen auf das Areal und nutzen es in unterschiedlichster Weise. Die Hälfte der Besucher sind Kinder, sie kommen aus der Nachbarschaft, aus Schulen und Kindergärten. Die Schulgruppen werden unter anderem von Lolo betreut. Er selbst beschreibt seine Arbeitsweise als eine, die sich an der Idee des Grundeinkommens orientiert. Die Finanzierung seines Lebensunterhaltes erlaubt es ihm, sich sozial und ökologisch zu engagieren und sein Wissen an andere weiterzugeben. Seine Stelle nutzt er neben der Pflege der Fläche für offene Workshops. Dabei gilt sein Hauptinteresse der Sensibilisierung für natürliche Kreisläufe und dem Aufbau von Biomasse. Während der Garten zunächst als Erfahrungsgarten aufgebaut wurde, wünscht er sich eine Erweiterung um einen produktiven Garten, der zur Selbstversorgung dienen soll. Zu seinen selbstgesetzten Aufgaben gehört auch der Aufbau einer Population des gefährdeten Kreuzdornzipfelfalters, der besonders die Ruderalvegetation von Brachflächen schätzt.  Insbesondere aber kümmert sich Lolo um den Aufbau von Humus. Er zeigt uns ein Kaltkompostersystem, das ursprünglich von der Familie Langerhorst in Österreich stammt, und im Stadiongarten weiterentwickelt wurde.  Die kunstvollen Kompostgebilde werden über einen Zeitraum von etwa 6 Monaten aufgebaut. Neben  stickstoff- und kohlenstoffhaltigen organischen Materialen, kommen zerstampfte Biokohle, Steinmehl und Reifekompost hinzu. Es findet keine Heissrotte statt und der Kompost wird auch nicht umgesetzt. Vielmehr wird er über 2 Jahren in Ruhe gelassen, damit die Umsetzungsprozesse ungestört ablaufen können. Während dieser Zeit wird der Kompost mit Starkzehrern bepflanzt, (z.B: im ersten Jahr Kürbisse, im zweiten Jahr Kartoffeln), was unter anderem für die nötige Beschattung des Kompost sorgt, der gewissermaßen die Verrottungsprozesse eines Waldbodens

brotoloco

Brotkollektiv brotoloco

Dank 50,05% der Zürcher Stimmen geht das temporäre Projekt unverhofft in die Verlängerung

Lange schien es so als würde der 2012 gegründete Stadiongarten 2014 bereits wieder geschlossen werden. Ein großes Immobilienprojekt wurde hier – im schnell sich entwickelnden Zürich West – geplant. Bereits heute rückt ein Wald aus Baukränen bedrohlich nah an den Garten heran. Da die Stadt das geplante Bauvorhaben finanziell unterstüzten sollte, waren alle Einwohner Zürichs aufgerufen, über die Umsetzung abzustimmen. Bei der Volksbefragung stimmte eine hauchdünne Mehrheit von 50,05% gegen die Bebauung. Der Verein Stadionbrache hat sich in dieser Auseinandersetzung zurückhaltend verhalten. Seine Satzung sieht vor, dass er keine Plattform für politische Fragen sein soll. Es ist aber anzunehmen, dass unter den nur 1700 Stimmen, die letztendlich den Ausschlag gegeben haben, einige der Besucher waren, die den Stadiongarten in jeder Saison besuchen und seine Atmosphäre genossen haben und in den kommenden Jahren wohl weiter geniessen können. Denn zumindest bis das nächste Bauprojekt geplant und finanziert ist – dann unter Umständen alleine von privaten Investoren und ohne Zustimmungspflicht der Bevölkerung – können die Menschen in Zürich West zwischen den Kränen und neuen Firmenzentralen weiter gärtnern, skaten, Brot backen und kompostieren.

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Kaltkomposter im Stadtiongarten