Investigativer Workshop: Urbane Gemeingüter

Im Rahmen ihres Residency-Projekts der Nachbarschaftsakademie haben Paula Z. Segal (596 Acres, New York), Anna Heilgemeir und Enrico Schönberg (Berlin) eine Fahrradtour zu Orten zwischen Kottbusser Tor und Mehringdamm organisiert und Orte aufgesucht, an denen derzeit die Frage der Gemeingüter und einer Stadtentwicklung von Unten verhandelt wird. Vor Ort haben VertreterInnen von Initiativen und Forschende die gegenwärtige Situation vorgestellt.

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Auf dem Gelände der ehemaligen „Dragoner-Kaserne“ haben wir über die Absicht des Bundes erfahren, einen der letzten großen Freiräume Kreuzbergs an eine internationale Investorengruppe zu privatisieren. Das Bündnis Stadt von Unten setzt sich hier für eine „andere Stadtentwicklung“ mit 100 % Mietwohnungen, 100 % wirklich sozialen Mieten und einer 100 % dauerhaften Absicherung ein. Als Vertreter der Initiative hat uns Robert Burghardt die gegenwärtige Situation geschildert, die inzwischen schon zum Gegenstand der Haushaltsgespräche im Bundesrat geworden ist, und mögliche Modelle einer Entwicklung von Unten unter Einbindung der Nachbarschaft und der bestehenden kleingewerblichen NutzerInnen vorgestellt.

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In unmittelbarer Nähe zum Halleschen Tor entsteht das „Kreativquartier südliche Friedrichstadt“ und mit ihm ein Imagewandel des Gebietes. Was bedeutet das für die Menschen, die hier in Gebäuden einer öffentlichen Wohnungsbaugesellschaft leben? Wird der Mehringplatz zum nächsten Brennpunkt der Gentrifizierung in der Stadt? Wer entscheidet über den Verkauf von Beständen öffentlicher Wohnungsbaugesellschaften? Welche planerischen Eingriffe sind für das Gebiet geplant? Welche Orte werden hier bereits gemeinschaftlich genutzt bzw. bieten Potential für solche gemeinschaftlichen Nutzungen?

 

Kampagne "Wachsen lassen!" (2012), Foto: Ben de  Biel

Kampagne „Wachsen lassen!“ (2012), Foto: Ben de Biel

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kampagne „Wachsen lassen!“ im Prinzessinnengarten: wir haben über die drei Jahre zurückliegende Gefährdung des Gartens durch die Privatisierungspolitik des Senats gesprochen. Angesichts eines explodierenden Immobilienmarktes und der Aufwertung des lange in Vergessenheit geratenen Moritzplatz durch „kreative“ Nutzungen – darunter der Prinzessinnengarten selbst, das Aufbauhaus, Co-Working-Spaces und die Ansiedlung von Büros und Agenturen in umliegenden ehemaligen Industriegebäuden, sowie die steigende Bedeutung des Tourismus um die Oranienstraße – wollte der Liegenschaftsfonds das Gelände Anfang 2012 meistbietend verkaufen. Nach gescheiterten Gesprächen zu einem Partizipationsverfahren mit Prinzessinnengarten und Bezirk war im Sommer aus einer öffentlichen Anfrage im Abgeordnetenhaus zu erfahren, dass konkrete Gespräche mit einem Investor aus der „Kreativwirtschaft“ geführt würden. Erst eine Kampagne mit 30 000 Unterschriften, nationale und internationale mediale Aufmerksamkeit und die Unterstützung des Bezirks haben dazu geführt, dass das Gelände vorerst an den Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg rückübertragen wurde und der Mietvertrag mit dem Prinzessinnengarten bis 2018 verlängert wurde. Die Zukunft darüber hinaus bleibt ungewiss.

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Die Bona-Peiser-Bibliothek gehört zu den wenigen öffentlichen Einrichtungen in einer der sozial verletzlichsten Nachbarschaften der Stadt. Aufgrund knapper Budgets plant der Bezirk den Betrieb einzustellen. Eine Initiative aus der Nachbarschaft hatte im letzten Jahr dafür gesorgt, dass die Schließung noch um einige Monate aufgeschoben wurde. Derzeit ist die Bibliothek nur noch an zwei Tagen in der Woche geöffnet. Aufgrund fehlenden Fachpersonals ist der Service eingeschränkt und ein Teil der Bestände ist bereits in andere Bibliotheken im Bezirk umgezogen. Derzeit spricht der Bezirk mit Initiativen und Vereinen aus der Nachbarschaft über alternative Nutzungsmöglichkeit, um die Bibliothek als soziale und Bildungsstandort zu erhalten. Wir haben mit Fotini Lazaridou-Hatzigoga von „The Public School“ gesprochen, die an zwei Tagen in der Woche Veranstaltungen in den Räumen der Bibliothek anbietet. The Public School wurde 2007 in Los Angeles gegründet. Sie ist eine Schule ohne Lehrplan, ohne Einschreibung und ohne Abschlüsse und unterstützt autodidaktisches Lernen. Jeder und jede kann unterrichten und lernen. Im Berliner Ableger gibt es Lesegruppen sowie Diskussion- und Filmveranstaltungen. Wir haben über Bildung als Form des Gemeineigentums geredet und über die Frage diskutiert, was es bedeutet, wenn „zivilgesellschaftliche“ Organisationen vormals öffentliche Aufgaben übernehmen, die angesichts der Sparpolitik in den Haushalten von Senat und Bezirk  gekürzt werden.

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Bild: Gemeinsame Lärmdemo Kotti & Co und Bizim Kiez am 15.7.2015 (bizim-kiez.de)

Kotti & Co steht für eine beispiellose Organisation von MieterInnen angesichts der teils horrenden Mietsteigerungen im ehemals öffentlich geförderten sozialen Wohnungsbau Berlins. Ulrike Hamann und Sandy Kaltenborn berichteten über die Geschichte des Mietenprotestes am Kottbusser Tor, von Lärmdemos, dem Bau eines informellen Gemeinschaftshauses und dem geplanten Mietenvolksentscheid. Wohl keiner hätte vor drei Jahren vorausgesehen, dass sich die Bewegung für bezahlbaren Wohnraum zu einem Politikum dieser Größenordnung entwickelt. Im Mai 2012 hatten die Mieter und Mieterinnen der Wohnblöcke am Kotti bei einem selbstorganisierten Straßenfest ein Protestcamp errichtet und erklärt: „Kira cok yüksek – Die Miete ist zu hoch! – Wir bleiben bis das Problem mit dem Sozialen Wohnungsbau gelöst ist!“. Seither sind sie einer der wichtigsten Akteure, die unablässig das Thema des sozialen Wohnens auf die politische Agenda setzen.

Auftaktveranstaltung Urbane Gemeingüter – Eigentum, Zugänglichkeit und Teilhabe an öffentlichen Flächen und Räumen

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Zur Auftaktveranstaltung (Freitag, 7.8.) des Wokrshops von Paula Z. Segal (596 Acres, New York), Anna Heilgemeir und Enrico Schönberg zum Thema Gemeingüter kamen etwa 50 BesucherInnen und haben bis spät in den Abend erfahren, was 596 Acres in New York macht, wie die gegenwärtige Situation in Kreuzberg aus Sicht der Initiativen stadtpolitischen Initiativen aussieht und wie das weitere Vorgehen des Berlin-New Yorker-Residencyprojektes aussieht. In Workshops, Spaziergänge und öffentlichen Gesprächen werden in den kommenden Wochen urbanen Gemeingüter in den Nachbarschaften um den Moritzplatz erkunden und thematisieren. Am Anfang der Veranstaltung stand ein

„Schwur für den Boden, für den wir kämpfen“

„wir tauschen Wissen aus und teilen es, um dauerhafte Strukturen aufzubauen, die ein Leben und eine Stadt ermöglichen, die nicht  zum Verkauf stehen und alle willkommen heisst. Wir versprechen, dass wir nichts von dem, was wir lernen, dazu nutzen werdden, privaten Wohlstand aufzubauen.“

 

 

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„Dieses Land gehört Euch!“ – An den Zäunen Hunderter New Yorker Brachflächen ist dieser Satz zu lesen. Paula Z. Segal und die von ihr gegründete Initiative 596 Acres markieren mit solchen Plakaten öffentliches Eigentum. Die Juristin Segal hat dazu mit ihrem Team Daten aus ansonsten nur kostenpflichtigen Katastern gesammelt. Mit dem Publikmachen dieser Informationen auf der Straße soll den jeweiligen AnwohnerInnen nicht nur verdeutlicht werden, was ihnen zusammen gehört, sondern sie sollen darüber hinaus ermuntert werden, sich dieses gemeinschaftliche Eigentum wieder anzueignen. Auf diese Weise sind unter anderem dutzende Gemeinschaftsgärten entstanden. Mit den Fragen „Wem gehört das eigentlich?“ und „Wer darf es nutzen?“ legt Paula Segal den Finger in eine Wunde. Heute wird sie als eines der „Gesichter des massiven Wandels von New York im 21. Jahrhundert“ (Fortune Magazin) porträtiert.

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Auseinandersetzungen um den Umgang mit öffentlichen Eigentum werden auch in Berlin seit Jahren intensiv geführt. Ob Tempelhofer Feld, Mietenvolksentscheid, Liegenschaftspolitik, oder die Auseinandersetzung um einzelne Orte wie Prinzessinnengarten, Yaam, Kotti, ehemaliges Dragonerareal, Flüchtlingscamp auf dem Oranienplatz oder den Wrangel-Kiez: Die Stadt ist auf der Suche nach alternativen Wegen zu Investoreninteressen, Verdrängung und der meistbietenden Veräußerung öffentlichen Eigentums durch Land oder Bund. Menschen, deren Zugang zu bezahlbaren Wohn-, Arbeits- und Gewerberäumen bedroht ist oder die sich um die Zukunft ihrer Nachbarschaften sorgen, wollen nicht einfach mitansehen, dass über die Orte, an denen sie leben, entschieden wird, ohne dass ihre Stimme gehört wird.

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Anna Heilgemeir (Architektin und aktiv in der Initiative Bündnis Stadt von Unten) und Enrico Schönberg (Bündnis Stadt von Unten, Mietshäuser-Syndikat) werden zusammen mit Paula Z. Segal in der Nachbarschafsakademie zum Thema Gemeingüter arbeiten und sich zu Methoden und Strategien in Berlin und New York austauschen. Gemeinsam wollen sie sich mit allen Interessierten auf den Weg machen, um in der Nachbarschaft um den Moritzplatz nach Orten zu suchen, die uns allen gehören und die wir gemeinsam nutzen können:

„Wir wollen zu einer Diskussion über die Vergabe, den Wert, das Selbstverständnis und die Utopie aufrufen, die die Stadt, die wir in ihrer Gesamtheit als etwas öffentliches, als Gemeingut begreifen, zu einem kollektiven Raum werden lassen. Ob Grünfläche, öffentliche Liegenschaft, Nachbarschaftszentren, Bibliothek, Schulen oder städtischer Wohnungsbau. All dies ist Dein Land, all dies ist unser Land, all dies ist Dein Haus, ist unser Haus!“